Lieferdrohnenhandelskrieg

Da vorne auf der Straße. Was ist das denn? Wo die Abenddämmerung sich in einer Pfütze spiegelt, formen sich Lichtkringel um ein Ding – orange, weiß. Meine geübten Augen ordnen die Logofarben den Zons zu. Als ich mit schnellen Schritten näher komme, erkenne ich die Amazon-Lieferdrohne. Abgeschossen. Aber noch nicht geplündert. Alle acht Rotoren sind auf dem Asphalt zerschellt, doch die Steuereinheit sieht verwertbar aus. Und vor Allem: Das Paket ist noch in der Mitte befestigt. Ich überlege nicht lange. Ohne mich umzuschauen greife ich mir die Drohne mitsamt ihrer Lieferung und renne. Renne so schnell ich kann, was trotz meines Alters noch überdurchschnittlich ist.

Wer sie wohl vom Himmel geschossen hat? Vielleicht Zalando, um dem Konkurrenten schlechte Lieferzeiten anzuhängen. Zwischen den Einzelhändlern tobt schon seit sechs, sieben Jahren ein Krieg. Subunternehmer des DPD ballern Hermes-Drohnen ab, die Konkurrentenjäger vom UPS dürfen angeblich sogar ihre Beute behalten. Letzteres lohnt jedoch nur selten, seit die Dinger alarmgesichert sind.

Thema Alarm. Im Laufen breche ich meinem Fundstück die Antenne ab, ansonsten lasse ich es diesmal drauf ankommen. Denn wenn ich die Steuereinheit heile nach Hause kriege, ist sie bestimmt noch dreiviertel Bitcoins wert.

Verdammter Mist, da sind sie schon! Mit einem Sprung weiche ich einem winzigen ZonBot aus, der Beweisfotos von mir knipst. Dabei tastet mein linker Mittelfinger schon nach dem Auslöser an meinem Handgelenk. Der Jäger-Handschuh schleudert ein Netz in die Luft, fängt den ersten ZonBot ein. Der Nächste ist noch weit genug weg, um eine Farbkugel zu werfen. Patsch! Auch diese Kamera filmt mich nie wieder.

Nichts wie weg! Im Schutz einer überdachten Häuserschlucht, entlang an leer stehenden Ladenlokalen, hetze ich zur alten Schule. Durch die schon lange eingetretene Hintertür die Treppe hinauf in die ehemaligen Physikräume. Hier kann ich immer wieder durchatmen. Mein Privatversteck. Die Lehranstalt ist seit über einem Jahrzehnt stillgelegt. Verrückt, wie die Zeit vergeht! Als ich noch jung war – irre, es ist über dreißig Jahre her – hatte ich hier die Realschule besucht. Wenn ich die Tafel anschaue, meine hingeschmierten Notizen darauf, sehe ich fast unseren Lehrer davor stehen. Wie er versucht, die Grundlagen der Elektrotechnik in unsere pubertären Köpfe zu quetschen.

Egal! Mit einem energischen Kopfschütteln zerre ich mich zurück in die Gegenwart, um das Fundstück auszupacken. Es ist selten, dass mir so leichte Beute in den Schoß fällt. Normalerweise jage ich Lieferdrohnen mit dem Funkgerät. Mit Richtantenne und Fernrohr anvisieren, Modell bestimmen, Kryptoschlüssel des jeweiligen Herstellers raussuchen und dann mit genug Sendeleistung den Autopiloten deaktivieren. Das heißt, die Fernsteuerung übernehmen und das Schätzchen zu mir locken. Damit gehöre ich zu den Fortgeschrittenen, zu den sogenannten Funkern unter den Drohnenjägern. Angefangen hatte ich natürlich, wie fast jeder, als billige Netzjägerin. Da schießt man das Opfer einfach mit einer getunten Spielzeugpistole ab oder fängt es gleich im Wurfnetz ein. Aber mit solchem Kinderkram fällt man zu sehr auf. Wenn ich heute eine Lieferung an mein Fenster hacke, dann sieht das von außen aus, als hätte ich die rechtmäßig bestellt. Thema Bestellung. Nachdem die heilen Elektronikteile sorgfältig beiseite gelegt sind, schlitze ich das Päckchen auf. Lieferschein, Rechnung und Füllmaterial wandern, wie jedes Papier, direkt in den Heizofen neben der Tür. Putzig sieht er aus, so völlig unpassend. Ich hab diese Miniatur eines Kachelofens vom Sperrmüll, seit vorletztem Winter füttere ich sie mit Verpackungen.

Aus dem Karton zwischen meinen Knien lacht mich ein paar Turnschuhe an. Nike, sehr praktisch, deren Markenlogo geht am leichtesten ab. Im Secondhandshop bekomme ich garantiert ein Kilo Vollkornbrot dafür. Die Logos muss ich vorher abtrennen oder gut übermalen, sonst gibt es Stress mit den Kommerzanwälten. Die achten penibel auf Markenrechtsverletzungen, wie den Verkauf geschützter Logos außerhalb lizenzierter Markenshops. Dass du geklaut hast, interessiert kaum jemanden – aber einmal unbefugt ein Herstellerlogo gezeigt, kannst du ‘ne Woche in Haft verbringen.

Unter den Schuhen liegen zwei weitere Artikel. Ich muss breit grinsen, dann leise kichern, als sich das kleinere Stück als eine Vorratspackung Verhüterli herausstellt. Was soll ich damit? Naja, wie immer. Werde Sie vorm rosa Hochhaus verkaufen. An die illegalen Prostituierten, die von der Polizei verknackt werden, wenn sie ihre Kondome auffällig oft im Laden kaufen. Seit vor vierzig Jahren das Bargeld abgeschafft wurde, ist jeder Kauf lückenlos zurückverfolgbar. Die Banken müssen alle Abrechnungsdaten sechs Monate aufbewahren. Und wenn in deinen Kontobewegungen überdurchschnittlich viele Kondome auftauchen, tja, dann ist offensichtlich, dass du als Nutte arbeitest. Genauso wie dein Führerschein eingezogen wird, wenn du zu oft Alkohol bezahlst. Oder wie deine Krankenkasse dich rauswirft, wenn du zu viel Süßes kaufst. Also verschwinden die Gummis in meiner Manteltasche. Heute Abend werde ich mich mal wieder durchs Hochhaus klingeln.

Der letzte Artikel im Paket ist eine runde, fette Dose mit Sportlernahrung. So ein Proteinpulver für Fitnessverrückte. Geil! Obwohl ich gezielt nach Gemüsekisten und Pizza jage, habe ich ständig Hunger. Ist noch Trinkwasser in meiner Flasche? Noch geiler! Auf der Stelle reiße ich die Dose auf, mische mir eine Hocheffizienzmahlzeit.

Doch bevor ich aufgegessen habe, fangen meine feinen Ohren wieder das typische Surren auf. Etwas nähert sich dem Fenster. Automatisch wandert mein Blick auf die nächtlich halbdunkle Straße hinaus. Da! Ein Zalando-Lieferbot leuchtet über einer Straßenlaterne auf, verschwindet wieder im Schatten, passiert die nächste Laterne. Noch winzig, nur für geübte Augen erkennbar. Schnell richte ich das Zielkonstrukt aus Fernrohr und Antenne darauf, ziehe mein Telefon mit der stets laufenden BotHack-App aus der Tasche. Modellnummer … vom Scanner erkannt. Kryptoschlüssel für Fernsteuerung … hab ich noch nicht. Liegt dem Entwicklerteam jedoch vor, kostet einen viertel Bitcoin. Wenn ich wirklich Dreiviertel für die Steuereinheit kriege, kann ich mir den Schlüssel leisten. Also tippe ich auf „freikaufen“, Mikrosekunden später spricht die App mit der Drohne. Weich wie Butter landet sie schließlich auf meinem Fensterbrett.

Vor fünfzehn Jahren hätte ich noch gelauert wie ein Kätzchen, um im richtigen Moment mein Netz über die Straße zu schießen. Bei dem Gedanken tauchen vor meinem inneren Auge die großen Mädels auf. Wie sie mir die wirklich wichtigen Bereiche der Elektrotechnik beibrachten. Wie wir zusammen im Keller saßen, Antennen bastelten, Vorverstärker löteten. Am Anfang brachten wir die Lieferbots lediglich durcheinander, so dass sie in der Luft stillhielten und sich leichter einfangen ließen. Danach versuchten wir, ihre GPS-Empfänger zu verwirren. Erst später war diese App aufgetaucht, von den Anonymen mit ihren geleakten Fernsteuerschlüsseln. Eigentlich werfe ich denen zu viel Geld in den Rachen. Aber es lohnt sich weniger aufzufallen. Ich werde schließlich nicht jünger, werde bald nicht mehr so schnell rennen können.

Während ich den ZalBot zerlege, halte ich plötzlich seinen Alarmgeber in der Hand. Bereits aktiv … Scheiße! Panisch werfe ich den Ortungssender weit aus dem Fenster, knalle es zu. Doch da biegen sie schon um die Ecke. Ein Peilteam in gelber Dienstkleidung. Gelb? Die Zals sind doch schwarz-orange! Auf den zweiten Blick erkenne ich DHL-Subunternehmer. Sie positionieren sich auf dem Schulhof, vor den Seiteneingängen, an der Straße vor dem Physiktrakt. Seit wann, zur Hölle, kooperiert DHL mit Zalando? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Um meine Panik zu vervollständigen, schwirrt ein Mini heran und klebt mir einen Notizzettel an die Fensterscheibe. Darauf steht … eine Stellenanzeige. Die suchen Mitstreiter für die Funkaufklärung, sowie die Abwehr feindlicher Übernahmen ihrer Drohnen. Mit festem Monatsgehalt und Wohnung in einer der Arkologien, welche nach und nach die Stadt ersetzen. Bitte gleich hier unterschreiben.

Haben die etwa gemerkt, dass ich gut bin? Bieten sie mir jetzt einen Job als Kampffunkerin an? Ich glaube, das kann nur eine Falle sein. Die Zalandos wollen mich aus dem Haus locken, weil sie zu wenige sind, um ein ganzes Schulgebäude zu stürmen.

Andererseits werden solche Stellen immer auf diese Art besetzt. Sie beobachten die Szene und werben gezielt die Geschicktesten an. Damit wäre die letzte Drohne ein Einstellungstest, den ich bestanden habe.

Woran soll ich erkennen, ob ich in der Falle sitze, oder vor der Chance meines Lebens? Hilflos esse ich noch einen Löffel Fitnessprotein und trinke mein letztes Wasser aus. In den Knast kann ich es eh nicht mitnehmen, mit DHL-Tariflohn kann ich mir neues leisten. Da mir nichts Besseres einfällt, öffne ich das schreckliche Päckchen. Es enthält einen einzelnen Kugelschreiber. Und was heißt das jetzt?

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