Allegro für die Solistin

Mit einem Seitenblick prüfte Merinde den Sauerstoffgehalt des Wassers, am nunmehr dritten Tag schenkte sie den Anzeigen der Lebenserhaltung kaum noch die angemessene Beachtung. Mit einem kräftigen Schwung ihrer Schwanzflosse tauchte sie nach oben, auf den zerbeulten Schutthaufen zu, der das vom Absturz zerfetzte Dach verschloss. Seit vorgestern lebte sie einen nutzlosen Walzertakt aus drei Taktschlägen: Apathisch in der Ecke kauern, dann entschlossen aufspringen und mit bloßen Händen Schrott beiseite schaufeln, gefolgt von der Erkenntnis, dass sie damit der eventuell giftigen Atmosphäre des Planeten Tür und Tor öffnen könnte, was zum ersten Schlag des nächsten Takts zurück führte.

Wenigstens war sie nicht allein. Die Mannschaft eines Rettungsbootes dachte an sie, Merinde hörte ihre täglich näher kommenden Gedanken. Der stabile telepathische Kontakt beruhigte sie; es konnte nicht mehr lange dauern, vielleicht würde man sie schon in einem knappen Bordzeit-Tag aus dem Wrack befreien. Der Einsatztrupp würde sich durch einige Meter Metallschrott graben müssen, um die unbeschädigte Kammer zu erreichen, in die sie sich unverletzt gerettet hatte. Den einzigen Hohlraum des ganzen Weltraum-Flitzers, der noch lückenlos mit Wasser gefüllt war. Merinde hielt inne und atmete so tief ein, dass ihre Kiemen leicht zitterten. Mehr als ein paar Sekunden durfte sie sich aber nicht gönnen! Je weiter sie sich der Außenhülle entgegen arbeitete, desto schneller konnten das Notfall-Kommando den Rest von oben her abtragen und umso eher war sie fort.

Ein angeschmolzenes Trümmerstück nach dem anderen ruckelte sie los, um es auf den vier Meter unter ihr liegenden Boden zu legen. Die Kammer war nahezu quadratisch, die untere Seite glatt und unbeschädigt, Wände und Decke eine Kuppel aus ineinander verkeilten Fragmenten. Nur ein unsichtbares Kraftfeld hielt die Kammer zusammen – nein, nicht ganz unsichtbar: Um ihre schmalen, langen Hände herum glitzerten grün-bläuliche Lichtpunkte wie Sterne aus Eis, wenn sie hinein griff und am Metall zerrte.

Falls die Meldungen auf dem Bildschirm im Boden noch korrekt waren, hatte sie Sauerstoff für zwei Wochen. Nachdenklich, fast dankbar, beobachtete sie die flimmernde Kette aus Luftblasen, die an einer undichten Stelle aus der Wand perlten und nach oben stiegen. Außenluft drang ein, aber wirklich nur Luft. Der chemische Sensor an ihrem Gürtel zeigte keine schädliche Kontamination an. Stattdessen unterstützte die schneeweiße Perlenschnur die Überreste der Lebenserhaltung, indem sie einheimischen Sauerstoff ins Wasser abgab.

Kaum hatte sie die nächste Ladung Schrott in der Ecke deponiert, in der sie gesten noch geschlafen hatte, da überfielen sie auch schon wieder die alten Zweifel. Das bisschen Gas, das hier im gleißenden Licht eines knapp über dem Boden angebrachten Strahlers schillerte, mochte unschädlich sein. Aber nur die Sterne wussten, durch welche Filter und selektiven Dichtungen es sich den Weg herein bahnte, bestimmt war es nur ein kleiner Teil der Atmosphäre dort draußen. Nachdenklich ließ Merinde den Blick über ihre bunt geschuppten Fingerspitzen gleiten, blinzelte kurz hinauf in die wieder einen Meter höher gewordene Kuppel und strich sich nervös die Haare aus dem hellgrün schimmernden Gesicht. Sie sollte besser nicht weiter arbeiten, solange sie nicht wusste, was sie auf der anderen Seite der zerstörten Schiffshülle erwartete. Die ungefilterte Luft des Planeten, auf dessen trockener Landmasse das Raumschiff abgestürzt war, könnte sonst ungehindert eindringen und ins Wasser diffundieren.

Hatte sie das nicht gestern schon befürchtet? Gut möglich, aber dann hatte sie es sich anders überlegt. Genauso hatte sie sich auch am Tag davor entschieden, die Ressourcen zu schonen und auf das Notfall-Kommando zu warten, nur um wenige Stunden später doch aufzuspringen und den Schutt abzutragen. Jetzt war erneut Schlag Eins ihres verzweifelten Walzertakts dran: rat- und rastlos versuchte sie, einfach einzuschlafen.

Das erste, was sie spürte, war ein Zittern an ihrer Rückenflosse. Das Wasser vibrierte, irgendetwas passierte! Kaum wurde sie etwas wacher, hörte sie auch schon die Stimmen der königlichen Einsatzkräfte in ihrem Kopf, fünf Personen in unmittelbarer Nähe. Schlagartig war ihr Kopf klar, die vor kurzem noch mühsam erzwungene Müdigkeit verflog, als sie mit wenigen Schwimmzügen den Raum durchquerte und sich den fremden Gedanken entgegen schaufelte. Wohin die formlosen Trümmer sanken, war jetzt egal, sie schubste alles einfach beiseite. Die dabei zerkratzten Schuppen taten nicht weh, etwas Kosmetik-Lack würde das ausbügeln.

Über einem länglichen Stück, das der groben Form nach einmal eine Treibstoffleitung gewesen sein konnte, strahlte grelles Sonnenlicht in Merindes Augen, das ausschließlich durch dünne Gase gefilterte Spektrum eines weißen Zwergsterns. Der Durchbruch war erreicht! Arme mit sieben Fingern hielten ihr einen Antigrav-Gürtel hin. Sie hasste diese Dinger, aber ohne Antigrav konnte sie sich auf Trockenland nicht fortbewegen. Beine müsste man haben…

Als sie den Gürtel anlegte und die passende Schwerkraft einstellte, fiel es ihr wie immer schwer, hässliche Bilder aus ihrer Erinnerung zu verdrängen. Merinde hätte Beine haben sollen, genau zwei zum aufrechten Stehen, doch die genetische Anpassung war ausgerechnet bei ihr fehlgeschlagen. Natürlich wusste das niemand. In allen Bewerbungen hatte sie stets angegeben, aus einer reinrassigen Kolonie zu stammen. Nur im gemischten Schmelztiegel des zentral-galaktischen Königreichs waren Optimierungen üblich, um sich an den biologischen “gemeinsamen Nenner” anzupassen und nicht in jedem zweiten Haus wie behindert zu sein.

Lautlos seufzend schaltete sie die Gravitationskontrolle ein, schloss ihre Kiemen und wartete darauf, gleich kühle Luft in der Nase kribbeln zu spüren. Vorsichtig ließ sie sich durch die enge Lücke tragen und schwebte an verkohltem Kunststoff vorbei auf die Sonne zu. Der Aufstieg reichte gerade aus, um die schlecht trainierte Lunge wieder zum atmen zu bringen, so dass sie nicht auch noch keuchend auf dem zertrümmerten Dach ihres Raumschiffs ankam.

Dort warteten die Leute vom königlichen Rettungsdienst: drei Echsen mit grazilem Schuppen-Muster an Armen und Rücken, zwei schwarz-weiß gefiederte Humanoiden mit jeweils vier nackten Handflächen und Krallenfüßen. Letztere sahen fast wie Merinde aus, nur dass ihre Haut von Federn bedeckt war, anstelle von Merindes schillerndem Regenbogen bunter Panzerschuppen. Dennoch hätte sie sich eher zu den Echsen gezählt, denn sie besaß ein nacktes Gesicht, wenn auch ein ziemlich humanoides.

Einer der Gefiederten richtete kurz einen Tele-Scanner auf Merinde, um dann davon abzulesen, dass sie die drei Tage im Kraftfeld unbeschadet überstanden hatte, dann begleitete er sie in das Schnellboot der staatlichen Flotte. Ein letztes Mal drehte sie sich um und hoffte insgeheim, dass niemand mehr feststellen konnte, dass das völlig zerstörte Schiff gestohlen war. “Dreckige Quallenpest!”, fluchte sie stumm und hielt die plötzlich bewusst werdende Wut gerade so im Zaum. “Nächstesmal klappt es garantiert, das muss es einfach!”

Auf dem nächsten besiedelten Planeten ließ sie sich absetzen. Am Flughafen der Hauptstadt, die jeweils zur Hälfte unter Wasser und am Strand lag, prüften Beamte ihre Identität und nahmen ihren Unfallbericht in die Akten auf. Noch einmal zitterte Merinde, musste sie doch befürchten, dass hier und jetzt alles aufflog. Doch der grau-glibberig glänzende Amorph hinter dem Schreibtisch stocherte zum Glück nicht zu lange in den Datenbanken herum. Er prüfte ihre gekonnt gefälschten Urkunden, glich sie aber nur mit denen des Verkehrsamts ab. Nicht mit den Anzeigen der königlichen Polizei. Gut so! Garantiert hatte jemand den Flitzer inzwischen als gestohlen gemeldet, es war schließlich über eine Woche her.

Letzten Endes ließ man Merinde laufen und das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Noch am selben Tag tauchte sie ins Nachtleben des Touristen-Viertels ein, um sich nach einer freien Fahrt umzusehen. Obwohl sie den Antigrav behalten hatte, wählte sie eine Bar in der wässrigen Hälfte der Stadt. Nur im blauen Licht unter Wasser, wo wilde Wellen ihr schulterlanges Haar fliegen ließen, sah sie wirklich gut aus. Dort waren die Chancen größer.

Ganz wie geplant, verließ sie den Ort noch in dieser Nacht, und zwar auf dem Rücksitz des Mietwagens zweier Jungs, die ihren Sommerurlaub auf einer Tour entlang der Küste verbrachten. Für ihre Fahrer wäre es sicherer gewesen, nicht gleichzeitig zu schlafen, denn schon einen Tag später war Merinde mit dem Flugboot auf und davon. Erst am nächsten Raumhafen kratzte sie alle Logos vom Lack der abgenutzten Karre und setzte den Fahrtenschreiber zurück, bevor sie das Teil für einen geringen Restwert verkaufte.

Das Geld reichte natürlich nicht für einen Linienflug an den Rand des Raumsektors. Aber es war allemal genug für etwas Essbares und gewisses Werkzeug. Als sie alle Sender und Code-Knacker beisammen hatte, schaltete Merinde wieder den Antigrav ein und träumte schon davon, ihn nie wieder zu brauchen. Auf der breiten, grau befestigten Straße, die Festland- und Wasserstadt verband, tauchte sie auf, zog die Schwanzflosse an und schwebte zurück zum Flughafen. Hier draußen fühlte sich ihr nasses Haar ganz kalt und klebrig an.

Als sie schließlich an den langen Reihen der Tore ankam, hinter denen die privaten Raumgleiter scheinbar eingeschlossen waren, fühlte sie sich gerade wieder soweit trocken, dass sie nicht mehr beim kleinsten Windhauch fror. In jedes Tor war ein Fenster eingelassen, darunter hingen ein universeller Biometrie-Scanner und eine Tastatur für das Passwort. Sich hier in Ruhe umzuschauen, wäre sofort verdächtig, deshalb konnte Merinde nur flüchtig in die Garagen schielen und schnell Marke und Modell darin erkennen. Vor einem kleineren, weder positiv noch negativ auffallenden Schiff blieb sie stehen und horchte nach allen Seiten. Keine fremden Gedanken in der Nähe. Gut so!

Die Biometrie ließ sich natürlich nicht knacken, deshalb gab sie sich als berechtigter Vertreter des Besitzers aus und versuchte sich am Kennwort. Der Code-Brecher vom Schwarzmarkt brauchte fast zwei Minuten, um es zu knacken, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Kaum war die erste Hürde überwunden, machte sie sich erst an die Einstiegsluke und dann an die Start-Blockade. In absoluter Stille hatte sie gearbeitet, doch als der fremde Raumgleiter endlich summte und sich leichtfüßig vom Boden löste, erschallte ein kurzer Freudenschrei. Ja! Geschafft!

Wieder begann ein neuer Part in ihrer Flucht-Symphonie, doch diesmal würde er mit dem Schlussakkord enden, sie wusste es einfach. Allegro für die Solistin, letzte Wiederholung. Brav fädelte sie sich in den vertikal fließenden Verkehr ein, der sich erst weit über dem Planeten verteilte, und verließ die Sichtweite nicht schneller als die meisten anderen Schiffe. Dann gab sie Vollgas. Auf die Grenze zu, immer auf die Grenze des Reiches zu, in Richtung des winzigen Sterns, dessen Koordinaten sie in all den Jahren nicht vergessen hatte. Es gab sie dort draußen, gar nicht weit weg: Die letzte reinrassige Kolonie der Meermenschen.

Merinde hatte das Reich noch nie verlassen, weiter als bis kurz vor die Grenze hatte sie es noch nie geschafft. Gewiss hätte sie auch niemals versucht, sich über die Grenzen der Reisegesetze hinweg zu setzen, wenn sie zum “gemeinsamen Nenner” der Einwohner passen würde. Doch alle regulären genetischen Anpassungen, die man bei jedem Kind ihrer Spezies schon im Ei vornahm, waren bei ihr verpfuscht worden. Was das Dümmste war: Ihre natürliche Telepathie war so schwach, dass man ihr damals zum Schulbeginn eine technische Prothese eingepflanzt hatte. Alle sechs Wochen musste sie die Batterien wechseln, sonst wurden die Gedanken anderer Menschen immer leiser, so dass sie stimmenlose Leute kaum noch verstand.

Ein klapperiges Boot wich ihr in weitem Bogen aus, als sie sich in Sichtweite der Grenzstationen in den normalen Raum zurück fallen ließ. Sein Hyperraum-Stabilisator schien ausgefallen zu sein, doch kein noch so schwacher Notruf war zu empfangen. “Flüchtlinge,” bemerkte sie ausdruckslos, “alle wollen hier rein, nur ich will raus.”

Auf jeden Fall hatte der kleine Glücksritter, der wahrscheinlich wie alle Einwanderer vom Wohlstand des Reiches angezogen wurde, eine Lücke im engen Netz der Posten entdeckt. Schnell ließ Merinde den Bordcomputer berechnen, auf welcher Route das Boot gekommen war, und steuerte denselben Punkt auf der grün-weiß flammenden Wand an, an dem ihr Vorgänger diese durchbrochen hatte. Das Raumschiff gewann an Geschwindigkeit und hielt direkt auf das leuchtende Kraftfeld zu, das den königlichen Raum wie eine unvorstellbar große Hohlkugel umschloss. Das war zu viel, sie musste die Augen schließen. Was würde passieren, wenn das Leck längst wieder dicht war, wenn der Aufprall sie flugunfähig machte und die Grenzbeamten sie hier nur aufsammeln mussten?

Das Vibrieren begann kaum spürbar, es übertrug sich von der Außenhülle auf den Sitz, über die Konsole auf Merindes Finger und füllte bald die gesamte Luft aus. War das die Nähe der Grenze, oder bereits die Lücke? Sie wusste es nicht, konnte nur abwarten und hoffen. Warten … bis plötzlich jedes Summen verstummte und in geisterhafte Ruhe überging. Auf einen Schlag war es vorbei. Was war vorbei – ihr jämmerlicher Fluchtversuch, oder ihr Leben als Bürgerin des Reiches?

Zitternd öffnete Merinde die Augen. Eine Haarsträhne hatte sich vor ihr Gesicht verirrt, ungeschickt pustete sie die kitzelnde Locke beiseite. Vor der Frontscheibe sah sie klare Sternennacht. Keine Grenze, die musste hinter ihr liegen. Hatte sich das Schiff etwa gedreht? Sie überprüfte den Kurs und die Lage der Sterne. Es waren fremde Sterne, die Welten jenseits der Grenze. Wilde Welten ohne zentrale Regierung, ohne Einheitskultur, ohne bekannte Regeln. Sie musste wahnsinnig sein. Wie wollte sie sich hier zurecht finden? Doch bevor sie sich in nutzlose Fragen fallen lassen konnte, blinkte ein Text des Autopiloten auf: An den Ziel-Koordinaten konnte kein Planetensystem geortet werden.

“Was ist denn sonst da?” schrie sie den Computer an, Angst und Unsicherheit fusionierten zu Panik. Etwas war dort, es musste dort sein! Die Zahlen, die ihre letzten Jahre bestimmt hatten – nichts als sinnlose Koordinaten in gähnender Leere? “Kurs halten!”, befahl sie trotzig. “Wir werden ja sehen…”

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