Hintergrund: Das Weltmodell

Entworfen hatte ich diese Welt als kitschige Utopie. Inklusive Weltfrieden, bedingungslosem Grundeinkommen und liberaler Kultur. Eine systematisch strukturierte Welt mit Konzept und klarer Linie. So transparent, dass die heile Natur wenig von ihr mitbekommt. Und so barrierefrei, dass kein Mensch ausgegrenzt wird. Nun ja, fast keiner, sonst wäre es langweilig.

Überraschenderweise tauchten kurz nach der Veröffentlichung einzelne Rezensionen auf, in denen dieser Traum als gruselige Dystopie bezeichnet wurde, gar als “erschreckende Zukunft”. Was war passiert? Ich nehme an, viele Menschen hadern mit der Vorstellung von Rechenmaschinen regiert zu werden. Aber wenn ich mir anschaue was dabei herauskommt, wenn Menschen sich allein regieren … Krieg, Vertreibung, Umweltzerstörung, Ressourcenvernichtung, das “sechste große Massensterben” der Erdgeschichte. Dieses Pack in künstliche Habitate zu stecken, welche nach ausgereiften Algorithmen nachhaltig funktionieren, war die Lösung für alle genannten Punkte. Denn ein Mittel gegen Unverstand erschien mir noch viel weiter hergeholt.

Wie auch immer, ich möchte dir meine Welt kurz vorstellen. Willkommen bei einem Rundgang!

Die Türme

Beginnen wir mit einem Staat. Auf der Erde gibt es 220 Staaten. Jeder davon belegt ein festes Rechteck irgendwo auf der Erdoberfläche, ungefähr mit den Ausmaßen von Hannover. Er ist als Turm mit exakt 500 Stockwerken konstruiert, insgesamt 5km hoch. Plus zwei unterirdische Stockwerke, aus technischen Gründen.

Ungefähre Topografie Europas, nicht maßstabsgetreu.
Ungefähre Topografie Europas, nicht maßstabsgetreu.

Die Wildnis zwischen den Ländern darf nur mit Ausnahmegenehmigung betreten werden. Naturschutz. Oder Vergiftungsgefahr. Um die Vorgeschichte, aufgrund derer sich die Menschheit in Türme zurückgezogen hat, ranken sich diverse Mythen. Jedenfalls ist Flora fast fertig damit, die Erdoberfläche zurück zu erobern. Nun aber zur Struktur eines Landes.

Ein vertikaler Staat

Im untersten Fundament, also auf Ebene “minus 2” oder im “zweiten Keller”, steht ein riesiger Großrechner. Darin lebt eine künstliche Intelligenz (KI). Sie regiert das Land optimal. Wer etwas optimitiert, braucht Kriterien: Stabilität, Wohlstand und Bildung maximieren, dabei den Ressourcenbedarf minimieren. Dafür ist die KI mit allen 219 anderen Ländern vernetzt. Die Regierungen stehen in ständigem Austausch; insbesondere passen sie ihre Wirtschaftspläne kontinuierlich an, um die globale Planwirtschaft zu optimieren. In Echtzeit wird registriert, welcher Bürger welches Land verlässt oder betritt. Im gleichen Stockwerk läuft auch die Infrastruktur des Turms zusammen. Stromleitungen, Netzwerkknoten und was man so braucht, zum Beispiel die gesammelten Messwerte der Etagen-Klärwerke. Der lückenlose Stoffkreislauf einer abfallfreien Nachhaltigkeitsgesellschaft muss schließlich gewartet werden. Zentrale Anlagen wie das Fusionskraftwerk sind ebenfalls im Keller installiert.

Damit wären wir beim Personal. Im gleichen Keller, in einem Hohlraum zwischen den Versorgungsleitungen, liegt eine kleine Wohnung für den Haustechniker. Diese(r) kleine Beamte hält den Staat physikalisch amlaufen, ansonsten hat er nichts zu sagen. Obwohl er/sie aus technischen Gründen natürlich Zugriff auf absolut alles hat. Manche Länder stellen diesem Amt einen Sysadmin zur Seite, der sich speziell um die Software-Infrastruktur kümmert. Aber es ist schwer, zwei geeignete Bürger zu finden, die es zusammen in einem Keller aushalten.

Schichtung eines Landes, nicht maßstabsgetreu. Es ist 5km hoch, dabei 10km breit. /Schichtung eines Landes, nicht maßstabsgetreu. Es ist 5km hoch, dabei 10km breit./

Gehen wir nun ins Erdgeschoss! Hier beginnt der Verwaltungstrakt. Alle Behörden reihen sich ordentlich aneinaner, 40 Stockwerke hoch. Was immer im Lande läuft, wird von hier aus verwaltet. Wenn du mal nicht weißt, zu welchem Büro du mit deinem Anliegen musst, kannst du dir am Eingang ein Gedächtnis-Upgrade mit einem Lageplan ausleihen.

Auf den Etagen 41 bis 159, direkt über der Landesverwaltung, folgen die Städte. Wer urban leben oder arbeiten möchte, ist hier richtig. Die Straßen bestehen aus Laufbändern unterschiedlicher Geschwindigkeit, so dass man am Rand leicht aufspringen kann und in der Mtite schnell voran kommt. Zusätzlich fährt unter jeder Stadt eine Tunnelbahn. Wie man es traditionell gewohnt ist, sind die meisten Straßen von vielen kleinen Häusern gesäumt. Manche haben nur zwei Stockwerke, andere bohren sich durch die Decke in die nächste Stadt darüber. Jeder Stadtteil besitzt einen grünen Park in der Mitte und gleichmäßig verteilte soziale Einrichtungen.

Darüber reicht der ländliche Raum von Etage 160 bis 299. Dörfer, Vertical Farms, Produktionslagen und viel Platz zum Leben. Wer seine Ruhe schätzt, sollte hier wohnen. Mit den vier Aufzügen in der Turmwand gelangt man jederzeit schnell hinunter in die Städte.

Ein Teich auf Etage 328 (Deuschland) bei Mittagsbeleuchtung.
Ein Teich auf Etage 328 (Deuschland) bei Mittagsbeleuchtung.

Von Etage 300 aufwärts findet man Grünflächen, Wälder, Teiche - ein Stück betretbare Natur. Nationale Ausbaureserve, eigentlich. Doch bis sie eines Tages gebraucht wird, sind dort riesige Naherholungsgebiete. Echte Wildnis findet natürlich nur draußen statt, wo es keine Menschen gibt. Das Betreten der Erdoberfläche ist untersagt, dafür darf man drinnen praktisch alles.

Vonwegen dürfen: Wie gesagt, gibt es zu gewissem Maße eine Planwirtschaft. Damit stellt die regierende KI sicher, dass es an nichts mangelt. Jeder Bürger erhält ein bedingungsloses Grundeinkommen in Sachleistungen, das heißt, man bedient sich frei aus der sogenannten Grundversorgung. Ebenso stehen öffentliche Einrichtungen und Gesundheitsdienste jedem offen. Was es darüber hinaus noch gibt, liegt in der Hand der Bewohner. Natürlich kann jeder Dinge erfinden und verkaufen. Du darfst auch besondere Pflanzen züchten und in deinem Restaurant anbieten, oder einen Verein gründen und Platz für dein Vereinsheim anfordern. Aber du musst nicht. Wer gar nichts nützliches tun will, kann von der Grundversorgung prima leben.

Soviel zum Staat. In den oberen drei Etagen, möglichst weit weg vom Erdboden, befindet sich ein Luft- und Raumhafen. Rund um die Uhr docken Transporter an Luftschleusen an, werden Passagiere abgefertigt und Exportcontainer verladen. Während ihres Aufenthalts hängen viele Spediteure Schilder mit Stellenangeboten vor ihre Schleuse. Du bist fertig mit deiner Welt und willst weg? Such dir hier eine Arbeit!

Die Vereinigung interplanetarischer Gütertransport

Soviel zur Erde. Der Rest des inneren Sonnensystems ist eher dünn besiedelt, das heißt, außer ein paar armseligen Außenposten gibt es nicht viel. Letztere gehören der globalen Universität, versorgt werden sie jedoch von freien Frachtschiffen. Diese wiederum zählen sich zur Vereinigung interstellarer Gütertransport, welche sich als erster Staat ohne Boden bezeichnet, obwohl sie von Anfang an eine eigene Mondbasis betreibt.

Im äußeren Sonnensystem haben Universität und VIG zwar auch ihre Raumstationen, jedoch herrscht hier Multikulti: Schon seit Jahrtausenden haben die Namariden - blaue, achtbeinige Kopffüßer - auf dem Uranus ihre Kolonie. Von dort aus hatten sie ihre künstlichen Ökosystem-Kapseln über alle Gasriesen verteilt, lange bevor die Menschheit überhaupt Raketen bauen konnte. Seit wenigen Jahrzehnten freuen sie sich nun, dass die Erdlinge endlich zu Besuch kommen. Ein fröhlicher Austausch von Fachkräften ergibt sich von selbst, je stärker sich die namaridische Sprache unter Menschen durchsetzt. Nicht die ganze, eher eine angepasste Sprache, welche alle raumfahrenden Völker gleich gut artikulieren können.

Als Kopffüßer hat mal keinen Hals, genauer gesagt, Namariden besitzen gar keine Stimme. Da sie mit drei Beinen sicher auf dem Boden stehen (oder an der Wand haften), haben sie jedoch fünf biegsame Arme frei für ihre komplexe Gebärdensprache. Passenderweise tragen Menschen fünf Finger an jeder Hand. Ein Naturgesetz? Zumindest besitzen auch andere Völker, zu denen sie friedliche Kontakte pflegen, genug Tentakel für die neue Sprache Interstellar.

Als Mensch “spricht” man Interstellar mit den Fingern einer Hand. Das geht nicht nur völlig lautlos, sondern auch hinterm Rücken, während man mit der anderen Hand nach vorne das Gegenteil behauptet. Während auf der Erde fast niemand die Sprache versteht, hat sie sich in der Vereinigung interstellarer Gütertransport als Amtssprache durchgesetzt. An der globalen Universität ist sie zumindest dort üblich, wo irdische Studenten mit Namariden zusammen arbeiten.

Da die VIG so gut wie nichts produziert, kennt sie auch keine Grundversorgung. Ihre öffentliche Infrastruktur beschränkt sich auf ein paar Verladehäfen und eine Notfalleingreiftruppe, welche nach vermissten Schiffen sucht oder Katastrophenhilfe leistet. Die Raumschiffe sind Privatbesitz ihrer Piloten. Was man nicht an Bord herstellen oder züchten kann, muss zugekauft werden. Insofern ist die VIG die letzte Bastion des Kapitalismus. Jedoch haben die meisten Bewohner nebenbei eine irdische Staatsangehörigkeit, so dass sie sich notfalls in den Turm ihrer Vorfahren zurückziehen können.

Außenpolitische Besonderheiten

So könnte das Sonnensystem mit seinen zwei Völkern stabil funktionieren, wenn es nicht so viele Ausnahmen gäbe. So weigern sich einzelne Staaten, die sogenannten Inseln, immer noch, sich ans KI-Netzwerk anzuschließen. Damit sind sie zwar eine Bedrohung für das System, jedoch bisher ein vernachlässigbar kleines. So sauber kontrolliert die Ein- und Ausreise registrierter Bürger abläuft, so abgrundtief intransparent ist die von Nicht-Menschen. Weil niemand dafür zuständig ist, geht namaridisches Personal der VIG bisher unkontrolliert ein und aus. Das Interesse am Besuch unserer - für sie ziemlich unbequemen - Welt war unter Außerirdischen bisher nie groß genug, um eine Richtlinie darüber einzuführen. Also können die seltenen Gäste tun was sie wollen, wenn sie denn unbedingt wollen.

Das Netz

Virtueller Platz, überlagert mit den Syästhesien akustischer und olfaktorischer Statusmeldungen.
Virtueller Platz, überlagert mit den Syästhesien akustischer und olfaktorischer Statusmeldungen.

Dann ist da noch das Netz. Dort kommt man mit einem Sensorset hinein, der Volksmund nennt es einfach Datenstirnband. Als Normalmensch kann man es im flachen Modus verwenden, also in realistisch dargestellten, virtuelle Räumen arbeiten. Trainierte Leute fächern ihre Schnittstelle jedoch in bis zu sieben Raumdimensionen auf. So lassen sich beliebige, räumlich unbegrenzte Universen überlagern, ohne dass sie die Sicht aufeinander versperren.

Insbesondere lässt sich jede Eigenschaft eines Reizes mit Information belegen. Zum Beispiel hörst du in der Wirklichkeit einen Klavierton in blau mit glatter Oberfläche und kugeliger Form. Nun, in der Realität ist der Ton eine feste Einheit, aber im Netz lässt er sich konfigurieren: Die Frequenz des Tons bedeutet A, seine Farbe B, die Textur C und seine Lautstärkenkurve wieder etwas anderes. Die Software kann ihm sogar einen Duft andichten, um Kategorie oder Relevanz zu vermitteln.

Bist du internetsüchtig? Nun denn, werde netzsüchtig! Hast du dich erst an einen so vielschichtigen, multidimensionalen Lebensraum gewöhnt, fühlt sich die Außenwelt nur noch flach an. Platt wie ein Würfel. Wenn dir dann die Verbindung abreißt und das Universum um dich herum auf drei müde Restdimensionen mit halber Sicht implodiert, dann erlebst du ihn: Den verhassten 3D-Schock.

Das Bildungssystem

Dann ist da noch das ausufernde, die Gesellschaft durchdringende Bildungssystem. Da Arbeit und Ehrenamt rein freiwillig sind, lernt man nicht nur für eine Berufung, sondern aus Spaß am Durchblick.

Die Mehrheit der Menschen ist Teil irgendeiner Schule, Oberschule, Hochschule und so weiter. Dort findet das Sozialleben statt, dort findet man gleichgesinnte Freunde. Man forscht und bastelt zusammen, lernt voneinander und wächst an seinen Fehlern. Statt mit den Arbeitskollegen, spielt man abends mit den Klassenkameraden. Viele Leute gehen nur in ihre Klassen, um täglich Freunde zu treffen. Andere erarbeiten sich Fähigkeiten für Kunstprojekte und Ehrenämter.

Denn das Grundbedürfnis nach Lebenssinn und Fortschritt ist fester Bestandteil der irdischen Kultur. Um für die globale Universität durchs Sonnensystem zu reisen, ist es jedoch besser, ein gesellschaftlicher Aussteiger sein: Eine gewisse Elite klinkt sich aus dem bürgerlichen Leben aus und kümmert sich nur noch ums eigene Fachgebiet. Das muss dich nicht automatisch zum Fachidioten machen, auch wenn einfache Bürger dich “etwas abgehoben” finden mögen.

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